Der Traum eines kleinen Mädchens...(193) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Mittwoch, 09. April 2014 um 15:45

Eine Lehrstunde ohne Pferd...

Polly suchte wieder einmal ein Gespräch mit der Nachbarin ihres Reitstalles Hubertus. Sie musste dazu nur hinter der Reithalle über den neuen Dressurplatz gehen. Dort begann dann der mit Gras bewachsene Feldweg, und der führte direkt am Grundstücksende der Nachbarin vorbei. Polly hatte darauf spekuliert, dass sie die Nachbarin in ihrem Garten antreffen würde. Da war es fast schon selbstverständlich, dass sie hineingebeten wurde.

 

Wenn Polly Probleme hatte, die sie nicht mit ihrer Familie bereden wollte, suchte sie den Kontakt zu dieser Nachbarin. Obwohl die in keiner Weise an Leistungssport oder Wettkampf interessiert war, hatte sie dennoch dank ihrer Klugheit und Lebenserfahrung auch bei sportlichen Fragen immer einen weisen Rat parat. Auch wenn Polly nicht gleich kapierte, was die Nachbarin sagte, war deren Ratschlag fast immer gut als Lösung eines Problems. Allerdings musste Polly schnell lernen, dass es meistens um Entscheidungen ging. Entscheidungen, die sie treffen musste, für das eine und damit gegen das andere.

 

Beim Öffnen der Gartenpforte und dem Eintritt in den verwunschenen Garten sagte die Nachbarin, die eigentlich schon zu einer Freundin geworden war, mit einem fröhlichen Lachen. „Hallo Polly! Wieder eine Philosophie-Stunde gefällig?“ Doch Polly war  nicht zum Lachen zumute. Schon viel zu lange wurde sie von ihren Vereins-Kameraden  gemobbt. Sie litt arg darunter.

 

Ganz automatisch gingen beide in die Küche des Hauses. Die Nachbarin plauderte munter über die Blumen, welche schon ihre Köpfe herausstreckten, während sie scheinbar ganz nebenbei Tee für beide kochte.

 

Später nahmen sie die gefüllten Teetassen mit nach draußen und setzten sich auf die schwere, verwitterte Holzbank des Tisches. Von hier aus konnte man bis zu einer Weide schauen, darunter grasten in aller Ruhe die beiden Pferde der Nachbarin. Auch die Tiere genossen die ersten Sonnenstrahlen dieses Frühjahres. Polly und die Nachbarin schlürften gleichzeitig mit vorsichtigen Schlucken den heißen Tee. Dann fragte die Nachbarin unvermittelt und ernst: „Was ist los?“

 

Weil Polly unbedingt wollte, dass die Nachbarin, die noch nie einen Fuß in den Reitstall neben ihrem Grundstück gesetzt hatte, sie ganz verstand, fing Polly ganz von vorne an. Sie erzählte von dem großen Glück, ein richtiges junges Dressurpferd bekommen zu haben. Sie beschrieb die unvorhersehbaren Schwierigkeiten beim Reiten, die damit aufgetaucht waren. Sie verteidigte den ungestümen Vorwärtsdrang des jungen Tieres, was aber auf der anderen Seite ein riesiges Problem für sie als 16-jährige darstellte, was zu lösen galt. Polly beschrieb ihre Ängste, das junge Pferd schon jetzt beim Beginn der Ausbildung als Sportpferd für die Zukunft zu versauen. Sie wollte auf jeden Fall verhindern, alles falsch zu machen. Sie wollte das Maul durch zu grobe Zügeleinwirkung nicht abstumpfen lassen. Doch da begann bereits das große Problem.

 

Dann erklärte sie der Nachbarin, wie es dazu kam, dass Reitlehrer Joachim seine Hilfe anbot, nämlich Florian wöchentlich einmal zu bereiten. Polly gestand, dass sie in der Vergangenheit immer laut getönt hatte, sie würde niemals jemanden auf ihr eigenes Pferd lassen. Sie alleine würde ihr  Pferd ausbilden. Das war schon früher mit ihrer Tinker-Stute Beauty so.  Aber jetzt war sie sich selber untreu geworden. Wahrscheinlich, so meinte sie zur Nachbarin, liege darin der Grund, dass die Kameraden und Freunde des Stalles mit ihr nichts mehr zu tun haben wollten. Sie betrachtete sich als Umfallerin, gab sie zu verstehen.

 

Polly fühlte, dass bei diese Beichte ihr die Tränen schon verdächtig hoch in den Augen standen. Sie wünschte sich, in der Vergangenheit niemals so über ihre Konkurrentin Brigitta gelästert zu haben, deren ehrgeiziger Vater keine Versuch unterließ, die Stute seiner Tochter optimal bereiten zu lassen. Alle wussten es, ab er keiner sprach aus, dass es Brigitta nur Recht war. Die meiste Zeit hatte sie Angst auf ihrem eigenen Pferd gehabt. Das jeden Falls konnte keiner Polly vorwerfen. Ihre Probleme lagen wo anders.

 

Hoffnungsvoll erzählte Polly noch, dass der wöchentliche Beritt durch Joachim sich allerdings äußerst positiv auswirkte. Polly konnte Florian nun wesentlich leichter reiten. Der Wallach war nicht nur insgesamt ruhiger, sondern auch durchlässiger. Das Paar machte Fortschritte. Sogar zwischendurch, wenn man gar nicht verabredet war, stellte sich Joachim an die Bande und gab Polly die richtigen Anweisungen. Das klappte ganz gut. Pollys Eltern mussten dafür nicht zusätzlich bezahlen. Es schien, dass der Reitlehrer tatsächlich ein persönliches Interesse an Polly und ihrem Pferd gefunden hatte. Polly tat das gut.

 

Erwartungsvoll schaute Polly die Nachbarin an. Sie hatte ihren Bericht beendet und hoffte auf einen Kommentar, um aus der miesen augenblicklichen Situation herauszukommen. Aber die Nachbarin stand nur wortlos auf und holte die Teekanne von drinnen. Polly schien sie eine Ewigkeit unterwegs, dabei hatte die Nachbarin nur schnell noch nach der Keksdose gegriffen, die sie nun auch mitbrachte.

 

Völlig unerwartet fragte die Nachbarin, wie es in der Schule lief. „Ganz normal“, antwortete Polly nichtssagend. Sie wollte eine Lösung für ihr Problem im Reitstall. Die Nachbarin wollte aber mehr von der momentanen Situation in der Schule hören. Da lief alles normal. Bäume wuchsen nicht in den Himmel. Aber so schlecht war Polly nun auch nicht. Ihre Leistungen befanden sich immer noch gerade im oberen Drittel. Die Nachbarin schwieg, sie schien nachzudenken. Das Thema Schule war offensichtlich durch. Da war sowieso Pollys kleinstes Problem. Wen interessierte schon Schule, wenn man eine große Dressurreiterin werden wollte?

 

„Ist Dir mal aufgefallen, dass, wenn es in der Schule oder im Sport gut läuft, es im privaten Bereich Schwierigkeiten gibt? Und umgekehrt?“, fragte die Nachbarin. „Wenn es mit Deiner Clique richtig gut läuft, tauchen plötzlich in der Schule oder beim Dressurreiten Probleme auf, ist das nicht so?“, fuhr sie fort. Polly dachte nach. Da war was dran. Es war ihr auch schon aufgefallen. Aber diese Gedanken hatte sie immer weggewischt. Es kam ihr blöd vor. Aber nun sprach die Nachbarin aus, was Polly im wirklichen Leben schon öfter selbst gedacht hatte. Sie gab es zu. Es war so. Auch bei ihr.

 

„Jeder hat verschiedene Bereiche im Leben, die ihm wichtig sind. Meistens ist das Familie, Beruf oder Schule und Hobby oder Leidenschaft für etwas Bestimmtes“, erklärte sie. „Es ist im Leben nun einmal so, dass diese verschiedenen Bereiche, die zweifellos sehr wichtig sind, niemals gleichzeitig auf einem Hoch sein können. Das wäre der Himmel auf Erden. Aber das gibt es fast gar nicht“, erläuterte die ältere Frau dem Teenager. „Bedenke, im Moment hast Du gute Erfolge in der Ausbildung Deines Pferdes. Auch die Schule scheint im Moment kein Problem darzustellen. Dafür ist Dein Privatleben, das mit Deinen Freunden, auf einem Tiefpunkt. Das eine ist auf einem Hoch, das andere auf einem Tief“, erklärte sie weiter. Irgendwann ist das umgekehrt, fügte sie noch hinzu.

 

„Bei Dir ist es so, dass Deine Freunde eng verbunden sind mit Deiner Leidenschaft, dem Reiten. Die anderen fühlen instinktiv, dass, wenn Dir das Reiten gut gelingt, Du auf einem Hoch bist. Dir kann in diesem Moment keiner etwas. Du bist der King. Du bist unangreifbar. Du bist mächtig“, erklärte die Nachbarin. Unwillkürlich erhellte sich Pollys Stimmung. Es stimmte. Florian ließ sich im Moment mit Joachims Hilfe ganz gut reiten. Polly gab auf ihrem Pferd eine gute Figur ab. „Das macht den anderen Angst. Vor allem denjenigen, denen das erfolgreiche Reiten auch so wichtig ist. Du wirst denen zu mächtig. Deswegen wollen sie dagegen steuern und suchen einen Schwachpunkt bei Dir, den sie Dich dann auch mit aller Macht spüren lassen. Das läuft natürlich nicht ganz bewusst ab. Die verabreden sich nicht wirklich gezielt dazu, Dich klein zu machen. Aber die eine Bemerkung hier, die andere da und schon wird an Deinem Lack gekratzt. Die anderen beobachten, wie sie Dich getroffen haben und warten nur darauf, dass Du am Boden liegst. Dann erst können sie sich wieder als die Könige fühlen und werden Dich gönnerhaft in ihren Kreis fast gnädig aufnehmen“, erklärte die Nachbarin weiter. „Das ist häufig so. Nächstes mal trifft es einen anderen.“

 

Das war eine lange Rede gewesen. Polly wollte darüber nachdenken. „Ich habe mich aber nicht als „King“ aufgespielt“, erwiderte sie. „Nein, musst Du auch nicht. Das ist Gefühlssache, Körpersprache“, sagte die Nachbarin.

 

„Um Dein Problem mit den Freunden zu lösen,  musst Du Dich jetzt entscheiden. Entweder Du genießt in vollen Zügen, dass Dein Pferd ganz gut geht und die anderen neidisch sind und vor allem bleiben. Oder Du bist ganz geschickt und lässt bewusst ein par Problemchen beim Reiten auftauchen, die Dich scheinbar auf den Teppich zurückholen. Das ist natürlich recht kompliziert, weil die anderen merken, wenn es nicht ganz ehrlich gemeint ist. Oder Du gehst ganz kleinlaut zu Brigitta und fragst um irgendeinen guten Rat. Egal was.  Auch wenn Brigitta dann die Situation voll ausnutzen und sich dabei aufplustern wird, wird ganz genau sie diejenige sein, die die Rolle des „King“ übernehmen wird. Damit wärst Du aus dem Schneider.“

 

Polly schwirrte der Kopf. So viel Psychologie war ihr noch nirgendwo begegnet. Sport war alles, was sie betreiben wollte. Aber sie kam wohl nicht darum herum, ihr eigenes Verhalten zu überdenken. Bis morgen hatte sie Zeit, sich etwas vorzunehmen, um ihre Position in der Clique zu ändern.

 

Polly steckte noch einen Keks in die Jackentasche und spazierte aus dem Garten der Nachbarin heraus. So viele Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Sie war regelrecht erschöpft. Da beschlich sie ein angenehmes Gefühl. Eigentlich war es ja ganz cool, mächtig zu sein, den anderen etwas Angst zu machen. Vor allem, wenn die neidisch waren. Ein Lächeln schlich sich in Pollys Gesicht. „Aber meine Freundschaften sind mir wichtiger“, sagte sie laut zu sich. Sie wollte wieder dazugehören. Auch wenn Joachim Florian weiter beritt und es gut klappen würde.

 

(Fortsetzung folgt…)

 

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