Der Traum eines kleinen Mädchens (75) Drucken
Geschrieben von: Uta Ludwig   
Mittwoch, 30. März 2011 um 13:17

Herr Wacker hat ein neues Pferd und ist verschwunden...

 

Das Reiten wurde für Polly immer wichtiger. Sie konnte dort häufiger ihre Freunde treffen. Vergangenes Wochenende durfte sie jeden Tag im Stall Hubertus verbringen. Das ging aber nicht gänzlich zu Lasten ihrer Zehnerkarte. Denn sie hatte schnell geschnallt, wie sie sich zu verhalten hatte, um ohne Bezahlung reiten zu dürfen.

 

Natürlich stellte es sich als ungemein hilfreich heraus, sich beim Pony-Putzen zu beteiligen, auch wenn man gerade nicht für eine Reitstunde eingeteilt war. Manchmal, wenn ein Pony frei war, durfte man es sich für die Reitstunde fertig machen.

 

Polly bekam ein Auge dafür, welches „neue“ Kind sich unsicher fühlte. Bei den Neuen fast alle. Sie hielten oft eine ganze Reitstunde nicht durch. Es begann für die Neuen immer so. Eines der erfahrenen Kinder, wie Polly, mussten das Pony mit einem Neuen im Sattel an einem Strick erst einmal durch die Halle führen.  Wenn dann der Neuling nun partout nicht weiterreiten wollte, oder nicht mehr konnte, durfte das Führkind die restliche Reitstunde auf dem Pony beenden.

 

Das war nur eine von mehreren Möglichkeiten. Eine weitere Chance zum zusätzlichen Reiten ergab sich auch oft dadurch, weil die Erwachsenen oder die älteren Jugendlichen auch keine Stunde voll durchhielten. Diese Hobbyreiter warteten oft nur darauf, um sich in die Tränke zu einem Gläschen Bier zu verdrücken. Für sie gab es somit nichts Bequemeres, als die Kinder auf die jeweiligen Pferde zu setzen, dadurch ersparten sie sich auch noch das Trockenreiten. Manche verließen sich oft darauf, dass die Kinder die großen Pferde sogar anschließend versorgten und in die Ställe brachten. Polly und ihre Freunde wussten genau, welcher Reiter seine Reitstunde immer schnell beendete. Je früher, desto länger konnten die Kinder reiten bis eine Stunde voll war.

 

Bei den Jugendlichen war das schon etwas schwieriger. Hatten die eine richtige Trainerstunde bei Herrn Weber, dauerte das Reiten eine volle Stunde. Herr Weber war ganz streng. Bei gezielten Turniervorbereitungen konnte eine Trainingsstunde sogar schon mal länger dauern. Dann hatten die Ponykinder keine Chance, ausgiebig trocken reiten zu dürfen. Lag bei den Jugendlichen aber gar nichts an und sie hatten vor dem Reiten schon lebhaft Skat gespielt oder sich laut unterhalten, konnten die Kinder hoffen, lange trocken reiten zu dürfen. Manchmal durften sie auf den guten Pferden sogar antraben. Das war ein Highlight!

 

Diese Umstände veranlassten die Kinder, das gesamte Geschehen im Stall zu beobachten. Sie kannten nicht nur den Pony-Schulbetrieb, sondern wussten sehr wohl, wann die Reithalle für die Schulstunden der Großpferde mit den Hobbyreitern und Trainingsstunden für die Turnierreiter genutzt wurde. Die Kinder kannten alle Pferde. Sie unterschieden die Schulpferde von den Privatpferden. Dabei war es ganz wichtig, die Reiter und die Besitzer mit Namen zu kennen.

 

Polly sagte immer artig „Guten Tag, Frau Meier“ oder „Guten Tag, Herr Schulze“. Mama brachte ihr Höflichkeit bei, wie sie es sagte. Im Grunde interessierten die Erwachsenen Polly nicht sonderlich. Aber deren Pferde umso mehr. Jedes Privatpferd könnte das nächste Mal ihr Pferd zum Trockenreiten sein. Außerdem waren die Privatpferde viel schöner als die Schulpferde. Es verwunderte Polly zwar, aber es war nun einmal so. Wieso, wusste sie nicht.

 

So geschah es letzten Freitagabend, dass die Kinder mitbekamen, als ein Pferd angeliefert wurde. Es stellte sich heraus, dass Herr Wacker, ein Bauunternehmer, sich ein eigenes Pferd gekauft hatte, welches nun in einem Hänger gebracht wurde. Die Aufregung des neuen Besitzers, den die Kinder schon kannten, übertrug sich auf sie. Bisher war Herr Wacker nur Hobbyreiter auf Schulpferden für sie gewesen. Von jetzt an gehörte er zu den Eigentümern eines Pferdes. Das war ein Aufstieg! Gott sei Dank, hatte Polly ihn immer höflich gegrüßt.

 

Ein neues Privatpferd im Reitstall erhöhte die Chance der Kinder, auf einem „guten“ Pferd reiten zu dürfen. Bei Herrn Wacker war es nämlich so, dass er zu den Freunden vom großen Klaus gehörte. Das waren alles Männer, die Sonntags von 10 bis 12:30 Uhr ausritten. Unter der Woche hatten die Herren nicht so viel Lust, in der Reitbahn herumzuhoppeln. Sie riefen ziemlich früh nach den Kindern, um selbst möglichst schnell in die Tränke zu kommen.

 

Für Polly hatte es sich so ergeben, dass ein Herr Hermanns sie schon öfter auf seiner Fairness hatte reiten lassen. Dieser Herr Hermanns war aber außergewöhnlich pingelig. Er moserte jedes Mal rum, Polly würde das Trensengebiss von Fairness nicht richtig sauber waschen. Das stimmte überhaupt nicht. Polly wusch es jedes Mal ganz gründlich ab. So ein Pferdebesitzer konnte schon sehr nervig sein. Aber Mama sagte, dass sich Polly schon nach seinen Wünschen richten müsse, wenn sie sein Pferd reiten wolle.

 

Ein traumhaft schöner Fuchs trat rückwärts aus dem Hänger. Er nahm den Kopf hoch und schnaubte laut. Das neue Pferd fing an, nervös zu tänzeln. Herr Wacker übernahm sichtlich unsicher den Strick und führte seine Neuanschaffung in den Stall. Alle schauten zu. Die ganze Traube der Reitkollegen folgte in die Stallgasse und zur Box. Herr Wacker führte das Pferd ganz in die Box herein, drehte es dort vorsichtig herum, sodass er dicht an der Tür stand. Dann erst löste er den Führstrick vom Halfter. Augenblicklich drehte sich das Pferd um die eigene Achse. Herr Wacker schaffte es gerade noch, mit einem Schritt aus der Box herauszutreten. Beinahe hätte sein neues Pferd ihn mit der Hinterhand umgestoßen. Er schloss die Boxentüre und ließ das Tier erst einmal sein neues Heim untersuchen und zur Ruhe kommen. Er ging weg. Die Zuschauer blieben noch an der Box stehen und gaben „kluge Kommentare’“ ab. Polly fand das Pferd nur einfach schön. Es war ganz gleichmäßig hell-rot-braun. Mähne und Schweif leuchteten in der gleichen Farbe. Die Mähne war nicht einfach lang, sondern ganz gleichmäßig vom Genick bis zum Widerrist auf nur ca. zehn Zentimeter gekürzt. Es sah sehr gepflegt aus. Das ganze Pferd gefiel Polly. Hoffentlich würde sie es einmal reiten dürfen, dachte sie die ganze Zeit voller Bewunderung. Sie beneidete den ollen Herrn Wacker. Warum hatte so ein Typ so ein schönes Pferd und sie nicht? fragte sie sich.

 

Herr Wacker kam zurück mit einem Tafel-Schild in der Hand. Er hatte es vorbereitet. „Bianca“ sollte seine neue Schönheit heißen. Es war eine Stute. Polly war begeistert. Nun war der Araberhengst vom Reitlehrer nicht mehr das schönste Pferd im Stall.

 

Als Polly heute in den Stall kam, lief sie zu ersten Mal nicht zuerst in den Pony-Stall. Sie  lief zu Bianca. Das Pferd stand nun sichtlich ruhiger in seiner Box und mümmelte am Stroh. Es hatte sich in den fünf Tagen schon eingewöhnt. Polly wandte sich beruhigt den Ponys zu. Auf dem Weg dorthin nahm sie wahr, dass in dem Büro mehrere erregte Stimmen zu hören waren. Sie schlich sich heran und erspähte Harald zwischen seinem Vater, dem Stalleigentümer, dem Reitlehrer und Frau Esser. Zwei fremde Personen stellten Fragen. Polly konnte nicht genau mitkriegen, um was es ging. Sie machte Harald ein Zeichen, dass er mal herauskommen sollte.

 

„Herr Wacker ist seit Sonntag nicht mehr in den Stall gekommen“, sagte Harald. „Wir haben die ganze Zeit versucht, ihn anzurufen. Er meldet sich nicht“, erklärte Harald. „Es geht keiner dran. Herr van Hopps war schon bei Wackers zu Hause. Da macht keiner auf“, fuhr Harald fort, „Herr Wacker ist nicht auffindbar, und wir müssen uns doch um sein Pferd kümmern! Das kann doch nicht tagelang in der Box stehen“, sagte Pollys Reitkollege ernsthaft. Polly war ganz erschrocken. Vielleicht darf ich das Pferd reiten, dachte sie sofort. Aber Harald sagte ihr, dass Aggi heute früh Bianca longiert hätte. War ja klar, dass sie sich nicht um das neue Pferd kümmern durfte, das taten die Erwachsenen. Es war schon ätzend, ein Kind zu sein. Die Erwachsenen durften immer alles!

 

Aber wo war Herr Wacker? Der konnte sich doch kein Pferd anschaffen und dann einfach weg bleiben! Polly fand das unerhört. Sie würde das niemals machen. Im Gegenteil: sie würde zweimal täglich nach ihrem eigenen Pferd schauen.

 

Auch als Polly abends abgeholt wurde, hatten die Erwachsenen Herrn Wacker nicht erreicht. Der blieb verschwunden. Keiner wusste, wo er war. Herr Wacker war wie vom Erdboden verschwunden.

 

(Fortsetzung folgt.....)

 

 

 

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