Paris. Para-Dressurreiterin Anna-Lena Niehues aus Gronau wurde am Tag der Eröffnung „ihrer“ Olympischen Spiele in Paris 40 Jahre alt, und am 4. Sepetmber holte sie in der Grade IV-Klasse auf Anhieb Bronze. Bis vor sieben Jahren verlief ihr Leben in normalen Bahnen, sie ritt Springen und Dressur, da brachte ein Tumor ihr Leben völlig durcheinander. Nach der Operation musste sie sich an ein anderes Dasein gewöhnen, doch das Reiten gab sie nicht auf, der Sport half ihr und die Pferde lehrten sie auch. Dem Erfolg jedenfalls werde sie nicht mehr alles unterordnen, sagt sie. Alexandra Koch unterhielt sich mit ihr.
Wie haben Sie die vergangenen gut zwei Jahre erlebt? Sie müssen ja voll gewesen sein von Highlights auf sportlicher, vor allem aber auch privater Ebene …
Anna-Lena Niehues: „Die vergangenen beiden Jahre waren sportlich wie privat absolute Highlights. Anfang 2022 konnten Quimbaya und ich ja bereits sehr gute M-Platzierungen einheimsen, welche die Einladung zur unserer ersten Deutschen Meisterschaft zur Folge hatten. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch kein Para-Turnier geritten und hatte keine eigene Kür. Entsprechend war ich natürlich nervös und habe mir gar keine großen Chancen ausgerechnet. Der Titelgewinn kam also absolut überraschend, ebenso wie die Nominierung zu WM und die erfolgreiche Teilnahme dort. In der Schwangerschaft bin ich noch längere Zeit geritten, was mir immer sehr guttat. Wohl deshalb war ich nach der Geburt so schnell wieder fit, dass ich im Juli schon wieder bei einem Turnier am Start sein konnte. Im Dezember 2023 folgte dann noch ein sportliches Highlight mit meinen ersten beiden internationalen Siegen bei einem Turnier in den Niederlanden. Neben dem Parasport war ich die ganze Zeit über bei Regelturnieren am Start. Im März konnte ich mich bei einer Dressur der Klasse S auf Quimbaya platzieren und im Mai folgte dann unser erster S-Sieg. Der Wahnsinn! Das Gefühl, den ersten S-Sieg überhaupt zu erringen, war für mich unbeschreiblich. Und mit dem Sieg bei den Deutschen Meisterschaften wurde das nochmal unterstrichen, in welch toller Form sich Quimbaya befindet. Wir wurden noch besser bewertet als jemals zuvor und mit 78 Prozent aus einer Dressurprüfung zu kommen, ist ein absolutes Highlight.“
Während diese Zeit sicherlich zu den schönsten in Ihrem Leben gehört, war die Zeit ihrer Tumor-OP wohl eine der schlimmsten. Vielleicht möchten Sie erzählen, wie sie dies erlebten, auch in Bezug auf die Einschränkungen, die zunächst ja mit der Querschnittslähmung kaum vorstellbar waren und dann doch Stück für Stück einen positiven Verlauf nahmen.
ALN.: „Die geplante OP wurde für Anfang 2017 festgelegt. Mein damaliger Freund und heutiger Ehemann Timo war in dieser Zeit schon immer an meiner Seite. Von der Diagnose bis zur OP blendete ich die Option, bleibende Schäden zu behalten, aus, auch wenn der behandelnde Arzt mich auf alles vorbereitete. Ich bin mit positiven Gedanken in die OP gegangen, was mir sicher auch im weiteren Verlauf, als ich sehr schnell bemerkte, dass ich auf der rechten Seite gelähmt bin, geholfen hat. Der rechte Arm war für mich damals komplett weg. Ich habe also nichts davon gespürt, während ich vom Bein trotz Lähmung noch eine dunkle Ahnung hatte, wo er sich befinden muss. In der Zeit nach der OP haben die Ärzte wirklich alles getan, um mich wieder zu mobilisieren. Sehr viel geholfen haben mir sicher auch meine vielen guten Freunde, etwa eine Ergotherapeutin, die mit mir an der Mobilisierung meines Armes gearbeitete hat, damit die Nervenleitungen langfristig wieder funktionieren würden. Auch eine weitere Freundin, die damals Medizin studierte und heute Ärztin ist, kam täglich vorbei und brachte mich auf andere Gedanken. Hinzu kam noch eine weitere Ärztin, mit der ich befreundet bin. So hat mir dieser enge Kreis gemeinsam mit meinem Freund immer den Rücken gestärkt und praktisch ein Sicherheitsnetz gebildet, das mich während der Therapie immer unterstützte. Drei oder vier Wochen nach der OP, als ich noch gar nicht richtig laufen konnte, haben meine Freunde mich auf einem ganz ruhigen Fjordpferd bei uns zuhause auf dem Hof geführt. Mein behandelnder Arzt war begeistert von diesem ersten Schritt zurück, da der Körper sich an die Bewegungen erinnert. Für mich war immer ganz klar, dass ich irgendwann wieder reiten können würde. Dass ich diese Herausforderung und diesen steinigen, anstrengenden Weg angenommen habe, hat mich wohl dorthin gebracht, wo ich heute bin.“
Sie betreiben seit vielen Jahren erfolgreich in dritter Generation den Reiterhof Rüenberg. Können Sie uns beschreiben, wie Sie diesbezüglich die oben beschriebene Zeit und die plötzlichen Einschränkungen erlebten? Wie stellt sich die Situation heute dar? Welche Einschränkungen sind geblieben und wie erleben Sie damit ihren Alltag und Beruf?
ALN.: „Ich bin ausgebildete Pferdewirtschaftsmeisterin. Die Ausbildung von Pferden war immer mein Ding. Es macht mir unheimlich Freude, mit ihnen gemeinsam diesen Weg zu gehen. Jedes Pferd ist anders, und sich auf sie alle immer neu einstellen zu müssen, macht mir unheimlich viel Spaß. Vor meiner OP habe ich um die acht Pferde täglich geritten, heute sind es maximal drei bis vier. Aber so kann ich mir auch für jedes von ihnen viel mehr Zeit nehmen. Der Betrieb gehörte zu dem Zeitpunkt, als ich operiert wurde, noch meinen Eltern. Ich hatte allerdings bereits die Leitung im Stall – sprich die Versorgung und das Training der Pferde – inne. Während ich im Krankenhaus und in der Reha war, haben unsere sehr guten Mitarbeiter den Betrieb gemeinsam mit meinen Eltern weitergeführt. Heute unterstützen mich unsere Pferdewirtinnen gerade dann, wenn ich mehrere Tage auf internationalen Turnieren unterwegs bin. Sie kümmern sich bestens um die Pferde und unsere Reitschüler. Für mich war der Betrieb nach der OP immer ein Ansporn, mehr mitzuwirken und meine körperliche Konstitution wieder aufzubauen. Heute habe ich noch Einschränkungen am rechten Arm und Bein. Ich sehe beim Laufen also immer ein bisschen lahm aus und stolpere auch mal. Ich selbst bemerke das aber am Körper gar nicht. Letztendlich ist meine rechte Seite einfach schwächer und die Muskeln sind durch die Lähmung nicht unter Dauerspannung, was die linke Seite kompensiert. Durch Physiotherapie und Massagen versuche ich den daraus resultierenden Verspannungen und Rückenschmerzen bzw. Nacken und Kopfschmerzen entgegenzuwirken.“
Gehen wir zu Ihrer großen Pferdeliebe, die Sie schon seit der Kindheit begleitet. Wie haben Sie es erlebt, mit Pferden aufzuwachsen? Was macht die Faszination Pferd für Sie aus?
ALN.: „Mit Pferden und auf einem Reiterhof aufzuwachsen, ist definitiv ein absolutes Privileg. Aber natürlich bringt es auch gewisse Einschränkungen mit sich. Wir waren an den Wochenenden auf Turnieren, während sich meine Freundinnen miteinander trafen und etwas unternommen haben. Für mich war das gut so, und ich hatte viel Spaß daran. Aber natürlich bedeutet das Leben mit Pferden immer frühes Aufstehen, viel Arbeit und nicht nur das Paradies. Damals war auch immer sehr hart für mich, wenn Pferde verkauft wurden. Pferde faszinieren mich durch ihre ganze Art. Wir haben Reitschüler vom absoluten Anfänger an. Und die Pferde nehmen die Schüler immer mit und gehen auf jeden von ihnen ein. Ich persönlich liebe auch die Arbeit mit schwierigen Pferden. Als meine Oma noch den Betrieb geführt hat, übernahm ich als Kind immer die schwierigen Ponys und hatte wirklich Spaß daran, mich in sie hineinzuversetzen und sie zu fördern. Ich wollte immer einen Draht zu ihnen bekommen und mit jedem eine wunderbare Partnerschaft entwickeln. Pferde tun unheimlich viel für uns Menschen, wenn sie sich bei uns wohl- und sicher fühlen dürfen.“
War für Sie immer klar, dass Sie Pferde auch zu Ihrem Beruf machen wollen?
ALN.: „Schon während der Schulzeit wollte ich immer etwas mit Tieren machen. Zunächst erwog ich den Beruf der Tierärztin, aber das Studium stellte für mich dann doch keine Option dar, da ich eher praktisch arbeiten wollte.“
Sie reiten ja im Regel-Dressursport, aber eben auch Para-Dressur. Was fasziniert Sie besonders am Dressurreiten?
ALN.: „Früher bin ich auch sehr, sehr gerne gesprungen. Wir hatten ein tolles Springpferd, mit dem ich bis Klasse L siegreich war. Auch mit meinen Dressurpferden bin ich immer gesprungen, aber natürlich ab einem gewissen Leistungsniveau in der Dressur nicht mehr zweigleisig mit diesen Pferden unterwegs gewesen. Beides mit demselben Pferd auf hohem Niveau ist schwierig zu bewerkstelligen. Bei der Dressur fasziniert mich immer wieder, welch eine feine, harmonische Art der Kommunikation entstehen kann, wenn man gemeinsam anfängt zu tanzen. Eine Freundin von mir sagt immer, dass man meinen Pferden und mir den gemeinsamen Spaß an der Sache ansieht.“
Wie würden Sie die Unterschiede vom Regelsport zum Para-Sport beschreiben? Was würden Sie sich für die Zukunft des Para-Sports wünschen? Mehr Integration in Regelturniere, um mehr Aufmerksamkeit und breiter gefächerte Startmöglichkeiten in diesem Bereich zu erleben?
ALN.: „An allererster Stelle steht sowohl im Regel- als auch im Parasport die Harmonie zwischen Pferd und Reiter. In den unteren Grades erwartet man beispielsweise einen ganz korrekt gerittenen Schritt. Und wer weiß, dass der Schritt eigentlich die schwierigste Gangart ist, der kann sich die Herausforderung dahinter vorstellen. Als Parasportler müssen wir uns auf unsere Pferde noch mehr verlassen können als die Reiter im Regelsport. Während die Reiter der Grades I bis III im Regelsport nur wenig bis gar nicht unterwegs sind, ist das bei Grade IV und V anders. Da gibt es ganz viele, die sowohl Regel- als auch Para-Turniere reiten. Worauf wir dabei immer achten müssen, ist, dass sämtliche kompensatorischen Hilfsmittel angegeben sind und wir den Sportgesundheitspass entsprechend dabeihaben. Ich nutze beispielsweise magnetische Steigbügel, da ich den Steigbügel sonst nicht mehr aufnehmen könnte, wenn er mir beim Reiten abhandenkäme. Außerdem würde mein Fuß sonst sehr schnell verkrampfen. Für die Zukunft wünsche ich mir natürlich noch mehr Aufmerksamkeit für die Parasportler. Denn wir alle bringen unsere Leistung genauso wie die Regelsportler. Alle, die mit dem Parasport verbunden sind, sind immer sehr bemüht, dass wir mehr Startmöglichkeiten im Rahmen von Regelsportturnieren erhalten. Deshalb freue ich mich über jeden Bericht und jede Möglichkeit, dass die Öffentlichkeit noch mehr Notiz von uns nimmt.“
Die Stute Quimbaya kaufte Ihr heutiger Ehemann noch während Sie 2017 im Krankenhaus waren. Hat Ihnen dieses Pferd in dieser Phase besonders Kraft gegeben? Wie haben Sie die erste Zeit mit Quimbaya erlebt? War für Sie immer klar, dass es für Sie beide Richtung Para-Sport gehen soll?
ALN.: „Quimbaya kam genau zu der Zeit zu uns, als ich ins Krankenhaus ging, das stimmt. Für meinen Freund war die Situation meines Krankenhausaufenthaltes damals natürlich sehr belastend. Da ich zuvor Pferde von einer Auktion für Reitschüler herausgesucht hatte, die sich dann aber doch gegen den Kauf entschieden, schickte ich meinen Freund einfach trotzdem hin, wohl auch einfach als Ablenkung. Und so kam Quimbaya zu uns. Zu Anfang ritt ich bei uns zuhause längere Zeit das brave Fjordpferd. Aber ich verspürte immer den Wunsch, doch endlich das neue schwarze Pferd zu reiten. Das war zunächst allen noch viel zu riskant und ich wartete ungeduldig ab. Als ich dann endlich in ihrem Sattel saß, war das Erlebnis aber doch etwas anders als ich es mir vorgestellt hatte. An Schrittreiten war nicht zu denken, sie war total unter Strom. Alles war hektisch und fast schon panisch. Was folgte, war ein langer Weg. Ja, daran hatte ich viel Freude, aber ich brauchte ganz viel Geduld und auch Nerven. Schließlich wuchsen wir aber unglaublich zusammen. Es war nie geplant, dass sie mein Para-Pferd wird. Aber ich wusste ohnehin nicht, ob ich im Parasport unterwegs sein würde. Ich hatte keine Ahnung, ob mein Handicap dafür überhaupt ausreichte. Heute bin ich froh, dass ich den Schritt gegangen bin.“
Was macht Quimbaya für Sie so besonders? Mit welchen Eigenschaften begeistert Sie die Stute? Welche Eigenheiten bringt Sie auch mit?
ALN.: „Quimbaya ist wahnsinnig ehrgeizig und möchte immer alles richtig machen. Wenn ihr das mal nicht gelingt, ärgert sie sich ganz doll. Gleichzeitig hat sie ein Hasenherz und traut sich nicht ganz so viel zu. Ich als Reiterin muss ihr dieses Selbstvertrauen geben und vermitteln, dass sie noch besser werden kann, wenn sie keine Angst hat. Sehr freue ich mich darüber, dass sie so fein an den Hilfen steht und ich ihr ohne große Schenkelhilfen vermitteln kann, was ich mir von ihr wünsche. Ihre Gehfreude kommt uns im Wettbewerb natürlich ebenfalls sehr zugute.“
Nach Ihrem ihrem Sieg bei der Deutschen Meisterschaft 2022 sind Sie ja auch gleich beim Weltchampionat WM geritten. Wie blicken Sie auf dieses Erlebnis zurück?
ALN.: „Ich hätte niemals damit gerechnet, damals die WM reiten zu dürfen. Als das durchsickerte, hatte ich bis auf meinen DM-Sieg noch keinerlei Erfahrung im Para-Bereich. An Fronleichnam 2022 ritt ich mein erstes internationales Turnier in Peelbergen. Davor waren noch zig Fragen zu klären. An einem Feiertagswochenende haben wir immer Feriengäste auf dem Hof und so musste ich erstmal herausfinden, ob meine Eltern und unsere Angestellten das allein schaffen. Aber das hat alles geklappt. Beim ersten internationalen Start wurde ich dann Fünfte und war noch nicht ganz zufrieden. Ich dachte, es wäre zu viel für meine neunjährige Stute. Allerdings habe ich dann fürs Team mitgezogen. Wir mussten den sechsten Platz erreichen, um uns für Olympia in Paris zu qualifizieren. Rückblickend fehlte uns aber noch die Routine. Das Minimalziel für unser Team konnten wir aber erreichen.“
Haben Sie ein reiterliches Vorbild? Oder ein Vorbild aus einem anderen Lebensbereich?
ALN.: „Isabell Werth und was sie in all den Jahren ihrer Karriere erreicht hat, ist für mich fast unvorstellbar. Sie kommt in Interviews immer authentisch rüber, das mag ich sehr an ihr.“
Haben Sie ein bestimmtes Lebensmotto?
ALN.: „Ich habe seit meiner OP immer den Satz von John Lennon im Kopf: Das Leben ist das, was passiert, während wir dabei sind, andere Pläne zu machen. Vor der OP hatte ich mir mein Leben sicherlich ein bisschen anders vorgestellt, aber bin dadurch noch einmal gewachsen. Und wer weiß schon, welche Möglichkeiten sich mir eröffnet haben, die es sonst nicht gegeben hätte.“
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